Ameisen, Blattläuse, Marienkäfer und Co.
Oder: Kritische Gedanken zu Idealvorstellungen von einem Ökosystem und einer Symbiose
Es kommt mir zunehmend wie ein Dogma vor, die so weit verbreitete Geschichte vom ökologischen Zusammenspiel der an Pflanzen saugenden Läuse, ihrer Feinde wie Marienkäfern, Schwebfliegen, Florfliegen, Brackwespen, Ohrwürmern, und der Rolle vieler Ameisenarten als Abnehmer des Honigtaus und Verteidiger ihres „Milchviehs“ gegen dessen Räuber.
Zum Nachdenken hat mich der verfrühte Sommer des Jahres 2011 gebracht, in dem ich Gelegenheit hatte, im eigenen Hausgarten die Entwicklung der Pflanzensauger-Populationen auf Süßkirschen, Sauerkirschen, Rosen, Holunder, Faulbaum, Kiefer, Eiche, Weißdorn, Schlehe, Buche und Deutzie sowie einigen weiteren Pflanzen zu verfolgen. Über wenigstens sechs Wochen, von Mitte April bis gegen Ende Mai, gab es praktisch keinen Regen, wohl aber viel Sonne und oft heißen, trockenen Wind.
Um es kurz zu sagen: Die Pflanzensauger entwickelten und vermehrten sich explosionsartig, die einen etwas früher, die anderen später. Das Laub glänzte von Honigtau, Blätter krümmten sich, Kirschfrüchte verkümmerten, weil die Läuse auch direkt an diesen und den Fruchtstielen saugten, der Honigtau troff von den Blättern und kristallisierte an den Spitzen der Kiefernnadeln. Es war offensichtlich viel zu viel für die Ameisen, um auch nur einen nennenswerten Teil davon aufzunehmen, geschweige denn, ihn einzelnen Läusen abzubetteln! (Bild 1)
Honigbienen naschten gelegentlich an dem Honigtau, auch am stark befallenen Faulbaum, doch bevorzugten sie hier die zahlreichen, kleinen Blüten. Hummeln leckten von dem Überfluss in eingerollten Kirschenblättern.
Die „Feinde“ der Blatt- und Rindenläuse (an Kiefern) machten sich rar. Anscheinend hatten nur wenige Marienkäfer und Schwebfliegen den Winter überstanden. Erst nach Mitte Mai tauchten vereinzelt Larven vom asiatischen Marienkäfer auf, ein paar auch vom einheimischen Siebenpunkt, und von Schwebfliegen. Keine Ameise habe ich in dieser Zeit je dabei gesehen, wie sie eine dieser Larven attackiert hätte. Überhaupt waren kaum Ameisen auf den befallenen Pflanzen unterwegs; wozu auch? Bereits am Fuß der Bäume und Sträucher floss ihnen sozusagen der Honigtau in die Mundwerkzeuge! Die Ameisen waren durchaus vorhanden, was man an ihrem Sandauswurf auf dem Verbundstein-Gehsteig erkennen konnte.
Was ich sagen möchte: Gewiss haben die Forscher, und auch Laien, immer wieder gesehen, wie Ameisen Pflanzenläuse „gemolken“ haben, oder wie sie Larven von Blattlausfeinden erbeuteten; auch dass Ameisen die Eier bestimmter Blattlausarten im Nest überwintern und im Frühjahr auf passende Wirtspflanzen bringen, wird hier nicht bestritten.
Aber: Das System, die Symbiose, ist anscheinend in einem recht fragilen Gleichgewicht! Unter ungewöhnlichen Witterungsbedingungen, hier eine lange, heiße Trockenperiode im Frühjahr, kann es ganz ordentlich entgleisen. Die Pflanzensauger entwickeln sich derart schnell, dass ihre Widersacher nicht rasch genug aufholen können, es kommt zu erheblichen Pflanzenschäden, auch in einem naturnahen, parkartigen Garten mit großer Pflanzendiversität und überwiegend einheimischen Gewächsen.
Was über Wochen hinweg ebenfalls zu beobachten war: Kohlmeisen, Blaumeisen und Haussperlinge hatten ihre Brutzeit. Unermüdlich turnten sie in Kiefern, Schlehe, Eiche und Kirschbäumchen herum. Offensichtlich sammelten sie Massen von Pflanzensaugern für die Ernährung der Jungvögel! Aber auch sie konnten die Massenvermehrung nicht merkbar begrenzen.
Es ist kein Einzelfall, was ich hier beschrieben habe. In vielen wärmeren Jahren kann man Ähnliches beobachten, mal mehr, mal weniger.
„Ökologisches Gleichgewicht“ heißt eben nicht, dass alles jahraus, jahrein gleich bleibt. Für die „Stabilität“ eines Ökosystems reicht es aus, wenn alle beteiligten Arten über viele Jahre hinweg vorhanden bleiben, wenn keine davon definitiv ausstirbt! Die einzelne Art kann durchaus in verschiedenen Jahren überaus häufig werden, in anderen fast ganz fehlen. Fast, so lange nur ein möglicherweise winziger Grundbestand überlebt.
Wer sich ein solches „System“ ins Formikarium holen möchte, sollte jedenfalls nicht darauf hoffen, dass ihm die Etablierung einer dauerhaften und gleichmäßigen Honigtauquelle für seine Ameisen gelingt. Ein pflegeleichtes „ökologisches Gleichgewicht“ wird sich nicht einstellen oder gar über lange Zeit von selbst erhalten. Die öfter beschriebenen Versuche, Töpfchen mit Weizenkeimlingen oder Erbsen und daran siedelnden Blattläusen ins Formikar zu stellen, dürften das äußerst Mögliche sein: Zucht der Blattläuse separat, außerhalb des Formikars, und regelmäßiges Wechseln befallener Töpfchen gegen solche mit „verbrauchten“ Pflanzen. Eine manchmal empfohlene parallele „Zucht“ von Marienkäfern zur Kontrolle der Blattläuse halte ich für so schwierig, dass der normale Ameisenhalter damit doch überfordert sein dürfte.
Bild 1: Honigtau der "Schwarzen Sauerkirschenblattlaus", Myzus cerasi, auf Sauerkirsche.
A. Buschinger 20:43, 25. Mai 2011 (CEST)
Siehe auch: http://www.ameisenwiki.de/index.php/Honigtau