Kastendetermination
Das entscheidende Merkmal eusozialer („echt sozialer“) Insekten ist das Auftreten fertiler neben ganz oder teilweise sterilen Individuen, eine Entkopplung von Fortpflanzung und Brutpflege. Traditionell bezeichnet man die reproduktiven Individuen als Königinnen (bei Termiten gibt es auch Könige), die nicht sexuell aktiven Helfer werden Arbeiter/innen genannt. Geschlechtstiere einerseits und Arbeiter/innen andererseits sind die Kasten im Insektenstaat. Bei Termiten treten Kasten in beiden Geschlechtern auf, bei Hautflüglern, also auch Ameisen, nur im weiblichen Geschlecht. Gelegentlich werden Hymenopteren-Männchen als eigene Kaste dargestellt, was aber falsch ist.
Bei den meisten eusozialen Arten ist neben der Funktion auch die Gestalt der Kasten verschieden, es liegt ein Kastenpolymorphismus vor. Geschlechtstiere sind meist größer als Arbeiter/innen, die ihrerseits spezialisierte Mandibeln, reduzierte Gonaden, eine anders differenzierte Drüsenausstattung etc. haben können. Am auffälligsten unterscheiden sich die immer flügellosen Arbeiterkasten bei Ameisen und Termiten von den im Jugendstadium geflügelten Geschlechtstieren. Eine alternative Interpretation bezeichnet als Kasten die gestaltlich verschiedenen Formen, deren Differenzierung im Larvenstadium eingeleitet wird, ohne Rücksicht auf die Funktion in der Kolonie. Dies führt jedoch zu verwirrenden Konsequenzen, da primitiv eusoziale Bienen und Wespen dann trotz reproduktiver Arbeitsteilung keine Kasten haben, und manche Ameisen, besonders Ponerinen, bei denen die Königinnen sekundär flügellos und den morphologischen Arbeiterinnen sehr ähnlich geworden sind, werden königinlos genannt (vgl. Diacamma).
Im Folgenden wird für Ameisen die funktionelle Kastendefinition verwendet. Wo eine morphologische Unterscheidung erforderlich wird, bezeichnet Gynomorphe (oft auch kürzer „Gyne“ genannt, von englisch „gyne“) das geflügelte oder, nach Begattung und Flügelabwurf, entflügelte Vollweibchen; eine Ergatomorphe ist ein Tier von typischer Arbeitergestalt; Intermorphe sind bei Ameisen recht häufige Zwischenformen. Alle drei können funktionell Königin, also begattet und fertil, oder aber infertile Arbeiterinnen sein. In der Gruppe der sterilen Arbeiterinnen sind weitere morphologische Differenzierungen möglich, z.B. in Klein- und Großarbeiterinnen oder Soldaten. Sie sollten als Unterkasten bezeichnet werden. Schließlich durchlaufen die einzelnen Individuen etwa bei Bienen und Ameisen einen vom Alter abhängigen Funktionswandel, von Innendienst und Brutpflege zum Furagieren im Außendienst. Auch diese funktionellen Gruppen werden besser nicht etwa „temporäre Kasten“ genannt, sondern direkt als Verhaltens- oder Altersgruppen bezeichnet.
Eine der Kernfragen in der Forschung über soziale Insekten befasst sich mit den Ursachen und Mechanismen der Kastendifferenzierung, mit der Kastendetermination. Aus dem Vorstehenden ist zu erkennen, dass man zwischen einer gestaltlichen Differenzierung (Morphendetermination) und der eigentlichen Kastendetermination, der funktionellen Zuordnung, unterscheiden muss. Die Mehrzahl der Arbeiten über Kastendetermination untersucht die Faktoren für die Entstehung der verschiedenen Morphen. Sehr häufig übernehmen diese zwar die ihrer Gestalt entsprechende Funktion, doch werden zunehmend Beispiele bekannt, wo die Funktion erst später festgelegt wird und durchaus nicht dem morphologischen Erscheinungsbild entsprechen muss.